Industrielle Farbmuster – Farbtonkarten für die Praxis – Farbsysteme als Quellen für farbtechnische Innovationen und Farbkonzepte

Seit dem Mittelalter sind Farbmusterbücher oder Farbmusterkarten überliefert. Die Fachhochschule Köln und die Technische Universität Dresden verfügen jeweils über bedeutende Sammlungen historischer Farbmuster und Farbsysteme; für den in diesem Projekt untersuchten Zeitraum zwischen ca. 1900 und 1940 liegt eine umfassende, repräsentative Materialbasis vor. Zudem kann für die Forschungen auf weitere Sammlungen bei Kooperationspartnern zurückgegriffen werden.

Farbmuster konnten vielfältigen Zwecken dienen: zur Veranschaulichung von Farbharmonien und Farbsystemen, als Hilfsmittel für die praktische künstlerische und handwerkliche Arbeit sowie als Verkaufsmuster für die Produkte von Manufakturen und Industrie. Diese Kontexte sind bei der Nutzung von Farbmustern als Quellen für historische Farbkonzepte zu berücksichtigen. (Vgl. Thema 1: Die materielle Seite der Farben)

Zudem ist es notwendig, auch die arbeitstechnischen Bedingungen bei der farbigen Gestaltung von Architektur einzubeziehen. Verputzer und Anstreicher konnten bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf vorgefertigte farbige Edelputze (z.B. der Firma Terranova) und Anstrichfarben (z.B. die Mineralfarben der Firma Keim) zurückgreifen. Auch für die Ölanstriche von Fenstern und Türen waren Fertigprodukte verfügbar. Doch wurden vielfach die Anstrichfarben noch individuell von den Handwerkern angemischt. Die Architekten waren bei der Realisierung ihrer Farbkonzepte also entscheidend von den verfügbaren Handelsprodukten sowie von der handwerklichen Qualität der Ausführung abhängig. Die im Rahmen einer Ausstellung des Malergewerbes von Taut geäußerte Hoffnung, dass in Zukunft Maschinen für einen gleichmäßigen Anstrich verfügbar sein könnten, spricht Bände (Bruno Taut: "Wiedergeburt der Farbe").

Farbtonkarten für die Praxis

In unmittelbarem Zusammenhang mit handwerklicher und künstlerischer Praxis stehen Farbtonkarten, auf denen Farbmittel in definierten Mischungsverhältnissen aufgetragen sind, um anhand dieser Muster den jeweils gewünschten Farbton exakt nachmischen zu können. Als Referenzen für die eigene Werkstattpraxis sind derartige Muster bereits im 15. Jahrhundert bezeugt. Im 18. Jahrhundert entwickelten sich daraus umfassende Referenzwerke, die als Drucke mit beigehefteten Mustertafeln eine Standardisierung von Farbskalen intendierten, aber auch als Anleitungen für die handwerkliche Praxis dienen sollten.

In diese Reihe gehören auch die von Otto Prase entwickelten und erstmals 1912 von Paul Baumann in Aue herausgegebenen "Farbentonkarten". Hierbei handelt es sich um eine systematisch nach Farbtonabstufungen geordnete Sammlung von mehr als 1300 Leimfarbenmustern. Wenngleich enge Beziehungen zu theoretischen Farbsystemen bestehen, sind doch diese Farbenkarten vor allem praktisch angelegt und wurden auch entsprechend rezipiert. Die genauen Rezepturen erlaubten es dem Malerhandwerker, die gewünschten Farbtöne aus dem Musterkatalog auszuwählen und selbst nachzumischen.

Auch Bruno Taut legte die Farbentonkarten von Baumann und Prase den Originalmustern in "Ein Wohnhaus" und damit sehr wahrscheinlich auch der handwerklichen Ausführung der Farbgestaltung in seinem Wohnhaus zugrunde. Tauts Muster allerdings enthalten nicht nur Leimfarben, sondern differenzieren zwischen den verschiedenen Bindemitteln der Anstriche der Wände einerseits und der Türen, Fenster oder Heizungen andererseits. Dies berücksichtigt die Unterschiede in Farbwirkung und Glanz, die dasselbe Pigment in verschiedenen Bindemitteln, in diesem Fall Leim- und Ölbindemitteln, erzielt.

[A] Bruno Taut: „Ein Wohnhaus.“ Stuttgart (Franckh’sche Verlagsanstalt) 1927. Beilage: Farbenkarte der im Haus verwendeten Malfarben. „Mattfarben“ sind leimgebundene Farben, z.B. für Wände und Decken. Ölfarben fanden z.B. an Heizkörpern Verwendung. Die Referenznummern beziehen sich auf Baumanns Farbentonkarten, System Prase. FH Köln, Sammlung Schmuck.

[B] Baumanns neue Farbentonkarte. System Prase. 48-teiliger Farbenkreis. Aue 1929. FH Köln, Sammlung Schmuck.

Farbsysteme

Davon zu unterscheiden sind Farbsysteme, in denen die Farben des Spektrums mit ihren Abstufungen in eine geordnete Beziehung zueinander gesetzt werden. Auch wenn sie nur mit materiellen Farben visualisiert werden können, zielt ihre Anordnung in eindimensionalen Farbenfächern, zweidimensionalen Farbenatlanten oder dreidimensionalen Farbkörpern auf eine allgemeingültige normative Bestimmung von Farbwerten.

Über diese Normwerte können Farbsysteme bei der Planung oder Rekonstruktion von Architekturfarbigkeit eingesetzt werden. Die konkrete Materialität der Farbmittel oder durch Bindemittel bedingte Faktoren von Tiefenlicht und Glanz bleiben in diesem Zusammenhang jedoch unberücksichtigt.

Industrielle Farbmuster

Diese Materialität steht dagegen bei den industriellen Farbmustern im Mittelpunkt. Zahlreiche Patente bezeugen die Bedeutung, die der Entwicklung neuer Farbmittel in der chemischen Industrie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beigemessen wurde, ein Phänomen, das in weiteren Teilprojekten des Verbundprojekts untersucht wird. Nicht alle Erfindungen gelangten zur Marktreife, bei anderen wurde die Produktion nach wenigen Jahren wieder eingestellt. Die möglichen Gründe hierfür sind vielfältig: unzureichende Verfügbarkeit von Rohstoffen, schlechte Eignung für eine wirtschaftliche Großproduktion, aber auch qualitative Mängel wie eine schlechte Vermalbarkeit oder ungenügende Alterungsbeständigkeit.

Die industriellen Farbmuster sind daher wesentliche Quellen für die Malfarben, die zumindest zeitweise auf dem Markt waren. Solche Firmenmuster sind unter anderem von der Firma Keim erhalten, die auf Mineralfarben für die Architektur spezialisiert war. Originale Farbaufstriche von Handelsprodukten wurden zudem häufig den Handbüchern für Künstler und Handwerker beigefügt. Als umfassendes Standardwerk ist hier vor allem "Das Deutsche Farbenbuch" von Heinrich Trillich (1923) zu nennen. Es enthält Beschreibungen der chemischen Zusammensetzung und Herstellung von Farbmitteln sowie repräsentative Aufstriche von Mal- und Druckfarben deutscher Hersteller für die verschiedensten Anwendungen (Wandanstriche, Aquarellmalerei, Ölmalerei, Farbdruck etc.).

[C] Keimsche mineraalverf. Bestand tegen borstel en zeep. Amsterdam (Smit) 1920. FH Köln, Sammlung Schmuck.

Auch Firmen waren an der Herausgabe solcher Handbücher beteiligt. So stammen die Mal- und Druckfarbenmuster in dem 1928 von Hans Wagner publizierten Werk "Körperfarben" ausschließlich von den Firmen Siegle und IG Farben. Auch Gustav Plessows im gleichen Jahr erschienene Abhandlung über "Die Anstrichstoffe" ist zugleich ein Musterkatalog der Firma Siegle.

Die industriellen Farbmuster repräsentieren fertige Malfarben, also bereits mit Bindemitteln sowie gegebenenfalls Füllstoffen verarbeitete Pigmente und Farblacke. Der jeweilige Anwendungsbereich ist damit strikt eingegrenzt; die Farbmuster für Aquarellfarben sind nicht für die Wandmalerei geeignet und umgekehrt.

Farbmuster als Quellen für historische Architekturfarbigkeit

Farbmuster wurden und werden von Architekten für die Konzeption von Architekturfarbigkeit eingesetzt. Bruno Taut nutzte zumindest für die Gestaltung seines Hauses die Farbenkarten von Baumann und Prase. Die beteiligten Handwerker konnten anhand der Rezepturen die ausgewählten Farben nachmischen. Die der Publikation von "Ein Wohnhaus" beigegebenen Musterkarten würden demnach unmittelbar die Farbigkeit der jeweiligen Elemente von Architektur und Einrichtung wiedergeben.

Das setzt allerdings zweierlei voraus: 1. Die von Tauts Handwerkern verwendeten Malfarben waren tatsächlich identisch mit denen der Mustertafeln. 2. Die inzwischen knapp 90 Jahre alten Farbmuster haben sich nicht im Farbwert verändert.

Im frühen 20. Jahrhundert entwickelte die chemische Industrie in dichter Folge neue Farbmittel. Auch bei der Herstellung gebrauchsfertiger Malfarben wurden beständig Veränderungen von Rezepturen vorgenommen, beispielsweise um die Applikation zu verbessern oder die Leuchtkraft zu erhöhen. Dennoch wurde häufig ein einmal eingeführter Handelsname beibehalten. Der Kunde erfuhr üblicherweise nicht, ob das 1922 gekaufte Zinkgelb dem von 1920 entsprach, oder ob es überhaupt Zink enthielt. Entsprechend ist damit zu rechnen, dass sich die materielle Zusammensetzung einzelner Muster in den unterschiedlichen Editionen der Farbtonkarten Baumanns unterscheidet.

Ein weiteres und im frühen 20. Jahrhundert vielfach diskutiertes Problem ist die schlechte Alterungsbeständigkeit vieler der neu entwickelten Farbmittel. Auch Taut klagte mehrfach über die schlechte Qualität von Anstrichfarben, die schnell ausbleichten oder sich sonst veränderten (Bruno Taut: "Wiedergeburt der Farbe"). Solch instabile Farbmittel können auch in Mustertafeln verwendet worden sein. Bevor Farbmuster als Quellen für die historische Farbigkeit herangezogen werden können, muss also ihre Zusammensetzung und ihr Erhaltungszustand geklärt werden.

Hierfür sollen die in den Sammlungen in Köln und Dresden vorhandenen Editionen von Baumann und Prase sowie von Tauts "Wohnhaus" materialanalytisch untersucht werden. Eine wichtige Objektgruppe industrieller Farben bilden die historischen Farbkarten der Firma Keim. Deren Mineralfarben verwendete Taut in den späten 1920er und 1930er Jahren für seine Siedlungsbauten. In Verbindung mit der Auswertung technischer Quellen und Analysen weiterer industrieller Malfarbenmuster lassen sich die Ergebnisse in den Kontext farbtechnischer Innovationen des frühen 20. Jahrhunderts einordnen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Frage nach der Alterungsbeständigkeit und Veränderung der einzelnen Farbmittel. Damit ergänzen sich die Forschungen dieses Teilvorhabens vor allem mit denen des Teilvorhabens der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Die Ergebnisse bilden die Basis für eine differenzierte Aussage zum Quellenwert historischer Farbmuster und ihrer Bedeutung als kulturgeschichtlicher Speicher für das Verständnis und die denkmalpflegerische oder kunsthistorische Bewertung künstlerischer Farbkonzepte.