Instrumentale Basis und Wege zu neuer Interaktion, Kunst und Didaktik der Farbe

Die vom Physikochemiker Wilhelm Ostwald (1853-1932) um 1920 entwickelte Farborgel sollte die Umsetzung seiner Vision von einer neuen Farbkunst ermöglichen. Er ging davon aus, dass die Normung der Farbe und die Entwicklung einer Systematik durch die technischen Neuerungen in der Industrie, insbesondere der Textilverarbeitung, notwendig geworden sei. Daher gliederte er in seiner quantitativ begründeten Farbensystematik den Farbraum durch eine nach der Weber-Fechnerschen Reiz-Empfindungsrelation logarithmisch gestufte und somit visuell gleichabständige Graureihe sowie durch adäquat gestufte Reihen im farbtongleichen Dreieck. Jede der experimentell mithilfe von Kreiseln und Schattenkasten ermittelten Stufen bildet eine "Farbnorm", die mit einer Ziffer (1-24) für den Farbton und einer Buchstabenkombination für den visuellen Weiß- bzw. Schwarzanteil gekennzeichnet wurde. Diese Farbnormen bilden auch die Grundlage für die Farborgeln, die diese Stufen als Pulver, Fladen, Aufstriche oder Flüssigkeiten enthalten [F]. Als exponierter Vertreter der exakten Wissenschaften war Ostwald davon überzeugt, dass er mit seiner Farbenlehre eine erkenntnisadäquate wissenschaftliche Weiterentwicklung der Vorleistungen Goethes, Runges und Schopenhauers auf der Grundlage neuer Erkenntnisse der Sinnespsychologie und Psychophysik, etwa von Fechner und Hering, erbracht hätte. Trotzdem fanden seine Ergebnisse damals aufgrund des Ausschließlichkeitsanspruchs, mit dem er diese auf Qualitätssicherung, Vergleichbarkeit und Reproduzierbarkeit gerichtete Systematik vertrat, unter Gestaltern nur geteilte Aufnahme.

Durch den gegliederten und in den Farborgeln direkt zugänglichen Farbraum wurde es Gestaltern und Künstlern ermöglicht, anders als bisher konzeptionell zu arbeiten, zu kombinieren, zu variieren, und Kompositionen wie Partituren konstruktiv zu entwickeln. Auch die Reproduzierbarkeit einmal gefundener, besonderer Lösungen wurde auf der Grundlage von Maß und Zahl erleichtert [2]. Ebenso reproduzierbar sollte die „neue Farbkunst“ sein, die sich Ostwald als eine Ausprägung abstrakter Kunst vorstellte [3]. Er verstand sie als eine „Zeitlichtkunst“, die deutliche Bezüge zur Tonkunst aufweist und die durch die dynamisch ablaufenden Wechselspiele von Formen, Farben und Rhythmen Ausdruckswerte vermitteln kann. Ähnliches wurde von Hans Lorenz Stoltenberg (1888-1963) und Hans Luckhardt (1890-1954) bereits um 1920 realisiert. Auch Ostwalds Tochter Grete Ostwald und Hans Hinterreiter wandten sich später dieser Vision in künstlerischer Auseinandersetzung zu. Grundlage hierfür war neben der skizzierten Farbenlehre eine elementare Formenlehre, die Ostwald 1922-25 entwickelte und die „…ihrerzeit den wohl konsequentesten – wenn auch verfrühten – Versuch einer elementaren Grammatik der Bildmedien dar(stellte).“ [4]

[F] Farborgel Wilhelm Ostwalds in Pulverform aus dem Nachlass Manfred Adams.

Die genormte Farbe in der Kunst

Mit Ostwalds Farborgeln in ihrer Urform arbeiteten die Künstler Rudolf Weber (1889-1972) und Hans Hinterreiter (1902-1989). Beide entwickelten eine eigenständige Formensprache, die jeweils einen seriellen Charakter aufweist [6], wobei Webers geometrische Abstraktionen sich formal eine aus der anderen entwickeln [J], während Hinterreiter netzartige Flächenstrukturen konstruiert. Für deren Farbgebung nutzte er aber nicht nur die von Ostwald als harmonisch bevorzugten wertgleichen Triaden, sondern auch von ihm neu gefundene Farbbeziehungen im Farbkörper, die er "Transversal-Komplementäre" nannte [G]. Weniger auf die Formentwicklung, sondern mehr auf die Farbe an sich konzentrierten sich die Künstler Jakob Weder (1906-1990) und Wolfram Jaensch (geb. 1940). Für seine großformatigen Bilder schuf Weder zunächst ein eigenes, pigmentbasiertes Farbenklavier, indem er Ostwalds Farbkreis dergestalt überarbeitete, dass alle Gegenfarben Grau ergeben, wenn man sie optisch auf dem Farbkreisel mischt. Seine Bilder [I] bestehen aus gestuften Vertikalreihen, zumeist Schattenreihen. Jaensch entwickelte in der Folge Weders Arbeit weiter und korrigierte die logarithmische Gliederung. Er fügte dem System außerdem eine elektronische Repräsentanz jeder Eichung hinzu. Seine Farbanordnung ist dynamischer, da er das System öffnet und somit "auch dem Fragmentarischen seinen Raum belässt" [H]. Die vier aufgeführten Beispiele sind Farbfeldmalereien, in denen die Farben als Oberflächenfarbe erscheinen, die durch die Kontraste zwischen den Farbfeldern miteinander interagieren.

Die Vision Ostwalds von der wegbereitenden Funktion des technischen Faktors hat sich heute auf andere Art, als er es sich vorstellen konnte erfüllt und global in den Medien und ihren technischen Instrumenten vergegenständlicht. Wesentliche Elemente seiner Lehre, insbesondere der Normungsgedanke für die Qualitätssicherung, Vergleichbarkeit und auch Reproduzierbarkeit von Farben, fand später Eingang in neuere Farbsysteme (z.B. Baumanns Farbatlas II, Farbkarte nach DIN 6164, Natural Colour System oder RAL Design System).

Zudem zeigt die digitale Welt von heute mit der vereinheitlichten Druck- und Bildschirmtechnologie auf der Basis von CMYK und RGB sowie einer stark expandierten Grafik- und Mediendesignlandschaft engste Verknüpfungen von Alltagskultur und Technik und macht deutlich, wie nahe sich inzwischen Farbwissenschaft, Farbtechnik und Farbkunst gekommen sind. Die Entwicklungsgeschichte des Druckfarbenwürfels (von Benson bzw. Prase bis Hickethier) als Instrument zur Orientierung und Qualitätssicherung für den Mehrfarbendruck ist ein gutes Beispiel hierfür.

[G] Hans Hinterreiter: Opus 91

[H] Wolfram Jaensch: Polychromie „Die Nacht“

[I] Jakob Weder: Farbsymphonie 149a „Herr, lehre doch mich“

[J] Drei „Flächenklänge“, die den seriellen Charakter von Rudolf Webers Arbeiten deutlich machen.

Die neue Farb-Licht-Kunst

Die allgemeine Bewusstwerdung der "Autonomie" der Farbe als elementares Lebensphänomen wurde zudem ein wertvolles Entwicklungsgut unseres Verhältnisses zur Farbe im 20. Jahrhundert. Auf dem Boden neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse sind es vor allem die eindrucksvollen Demonstrationen der neuen Farb- und Lichtkunst, die auf subtile Weise in das öffentliche Bewusstsein gedrungen sind, es bereichert und neue Einstellungen befördert haben.

Ein Beispiel für diese Lichtkunst [7] ist die von der Forschergruppe um Ulrich Bachmann an der Zürcher Hochschule der Künste entwickelte "Farb-Licht Klaviatur" [K]. Die begehbare Installation entwickelte sich aus Untersuchungen zum Einfluss von farbigen, dynamischen LEDs auf farbige Oberflächen zur Vorhersage von Farbtonverschiebungen und zielt gleichzeitig auf das Bewusstmachen dieser Verschiebungen beim Betrachter. In dieser Installation werden die Farben freier, gar zu raumerfüllenden Farben, die die Materialerscheinungen und Raumwirkungen modulieren. Sie sind nicht länger an die Erscheinung als Oberflächenfarben gebunden. Diese Wirkungsweise wurde erst durch die Entwicklung neuer Instrumente und experimenteller Wege ermöglicht.

[K] Interaktion von Farben – demonstriert anhand von LEDs und der „Farb-Licht-Klaviatur“ von Ulrich Bachmann in Hellerau 2009

Sie zeigt aber, wie visionär Ostwalds Gedanke von einer zeitlich dynamischen Farb-Licht Kunst war, dessen interaktiv-serieller Aspekt auf elementare Art in Josef Albers künstlerischem und didaktischem Werk ausgeprägt wurde. Inzwischen wird in Alltagskultur, Architektur und Kunst farbiges Licht immer häufiger genutzt, ebenso wie interaktive Rezeptionstechniken. Dabei wird jenes dynamische Moment bewusst mit einbezogen und gleichzeitig für didaktische Zielstellungen erschlossen, denen im Forschungsvorhaben insbesondere nachgegangen werden soll.